Die Harbacher zur Zeit des Zweiten Weltkrieges – Drei Dokumente, drei Schicksale

Vor uns liegt ein kleines altes Oktavheft. Es ist ein Tagebuch, verfasst im Jahre 1939. Die Seiten sind etwas vergilbt und stockfleckig. Die mit Tinte von Hand geschriebene kantige Frakturschrift erfordert die Beschäftigung mit der Materie, Geduld und Motivation bei der Transkription. Doch die Mühen lohnen sich! Das Dokument offenbart sehr interessante Details zur Alltagsgeschichte des Ortes. Dem Schreiber der Zeilen war indes auch bewusst, dass ihm dieses Büchlein damals in große Schwierigkeiten bringen könnte, sollte es in die falschen Hände geraten. Stellenweise halten wir beim Lesen der Ausführungen den Atem an.

Das zweite Dokument vor uns ist ein Brief, verfasst im Oktober 1944. Auch hier: eine klare, kantige Handschrift, geschrieben mit einem Füller. Der Absender scheint ein geübter Schreiber zu sein. Ein Soldat, der in jenen Tagen offenbar viele Briefe dieser Art zu verfassen hatte. Das Papier hat an den Rändern Flecken. Wasserflecken. Rühren diese etwa von Tränen der Leserin?

Der dritte uns vorliegende Text ist auf einem Löschblatt geschrieben. Ein Lebenslauf. Genauer gesagt, dessen Entwurf. Er wurde auf das Löschblatt geschrieben, um danach sauber und ordentlich auf ein „gutes Blatt Papier“ abgeschrieben zu werden. Wir sehen die heute noch gebräuchliche Schreibschrift eines jungen Verfassers, damals gerade einmal 14 Jahre alt war. Das Lesen ist somit kinderleicht. Doch das, was der Junge zu seiner Biografie schreibt, lässt uns fast erschaudern. Hat der Bub das Erwähnte in seinem kurzen Leben tatsächlich erlebt?

Drei Dokumente von drei unterschiedliche Verfasser verkörpern Schlaglichter von drei unterschiedlichen Schicksalen. Ihnen allen gemein ist die Verbindung zum Grünberger Stadtteil Harbach, über dessen Zeit im Zweiten Weltkrieg Sven Schepp in seinem Buch „In fremder Erde ruh’n – Die Harbacher im Zweiten Weltkrieg“ schreibt.

In der heutigen sehr schnelllebigen Zeit, in der ein Geschichtsbewusstsein zunehmend oberflächlicher und nur generalisiert vorhanden ist, in der Zeitzeugen nahezu ausgestorben sind und im öffentlichen Leben nur wenig an die Vorgänge während des letzten Krieges erinnern, mag es gut tun, einmal inne zu halten und den eigenen Blick auf historische Details zu lenken. Einen Blick auf die Menschen der heimischen Region, ihre facettenreichen Biografien und die Auswirkungen des Krieges auf individuelle Familiengeschichte. Spannend und erschreckend zugleich sein, in jedem Fall aber lohnt das Lesen.

Blicken wir auf das erstgenannte Dokument, welches im Zuge der Recherchen zu dem Buch in einem privaten Nachlass gefunden wurde. Es handelt sich um ein Tagebuch des in Harbach von 1932-1943 Lehrers Karl Söhngen (1902-1978). Seine privaten Aufzeichnungen geben uns heute einen bemerkenswerten Einblick in die Alltagswelt des Jahres 1939. Immer wieder wird beispielsweise die bereits 1939 sehr eingeschränkte und kontingentierte Lebensmittversorgung erwähnt. Sie erzählt von Problemen beim Kauf von Bekleidung in Gießener Geschäften sowie von Stimmungsbildern bei heimischen Metzgern. Doch befragte und analysierte Söhngen auch auf Heimaturlaub weilende Harbacher Soldaten zu den Vorgängen am Westwall und beschrieb Stimmungsbilder, Abläufe und eigene Feststellungen des bei Harbach befindlichen Flugplatzes. Er berichtet von einem Vortrag eines Gießener NS-Parteifunktionärs im Dorf, zu dem die Dorfbevölkerung förmlich gepresst wurde. Dem Redner sprach Söhngen jedes Talent ab und bezeichnete ihn glatt als „Marktschreier“.

Söhngens persönliche Texte entstanden unter dem bewussten Eindruck der Gefahr, die sich daraus ergeben könnte:
„Ein Tagebuch sollte – streng genommen – der Niederschlag der gesamten Lebensauffassung sein. Also müsste auch die weltanschauliche Seite neben der rein persönlichen im Vordergrund stehen. Das ist jedoch in der heutigen Zeit eine heikle Sache. Man könnte sich daraus ungewollt sein eigenes Grab graben, und das möchte ich nicht.“

Unter welchem Druck einer inneren Zerrissenheit mag Karl Söhngen damals gestanden haben? Einerseits war er als Lehrer eine Respektsperson im Dorf, ein Vorbild, welches seine gesellschaftliche Rolle als Vertreter der staatlichen Bildung wahrnehmen musste. Andererseits stellte er in seinen Texten das herrschende Regime zumindest ansatzweise in Frage und äußerte sich bisweilen kritisch zu Alltagsfragen.

„Wir können noch nicht einmal ein Stück Seife für die Schule bekommen. Wer will uns Marken geben?“ (11.10.1939) 

„War heute mittag in Gießen um allerhand Kleinigkeiten zu erledigen. Die Läden werden immer leerer, und die Gesichter sowohl der Geschäftsleute als auch der Kunden immer länger.“ (25.11.1939)

Vergleicht man Klassen- und Schulbilder von Harbach mit denen, die im gleichen Zeitraum, also der Frühphase des Krieges in Nachbardörfern gefertigt wurden, so sucht man vergebens die damals typischen Uniformen der Hitlerjugend auf den Bildern. Ob das auf Söhngens Einfluss zurückzuführen war?

1943 wurde Söhngen zum Frontdienst eingezogen und wurde in Frankreich, Polen und Ungarn eingesetzt. 1945 verwundet, kehrte er im März 1946 aus der russischen Gefangenschaft zurück und durfte unmittelbar den Schuldienst in Allendorf/Lahn aufnehmen. Passagen seines Tagebuches sind in Schepps Werk erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

Das zweite der eingangs erwähnten Dokumente ist das Schreiben eines Hauptfeldwebels an die Mutter des aus Harbach stammenden Soldaten Wilhelm Konradi, in dem er ihr mitteilt, dass der Sohn bei den Kämpfen im September 1944 in Lettland gefallen sei.

Ein typisches Zeitdokument, wie es Schepp bei seinen Einblicken in die Familiennachlässe des Ortes des öfteren finden konnte.

Wilhelm Konradi stammte aus Harbach. Er war mit seiner Schwester als Halbwaise aufgewachsen, da der Vater bei einem Grubenunglück in der kurzzeitig bei Harbach existierenden Bauxitgrube 1921 ums Leben gekommen war. Der Bub war damals gerade einmal zwei Jahre alt gewesen. In der Folge musste sich die Witwe mit ihren beiden Kindern so gut wie möglich durch wirtschaftlich schwierige Zeiten schlagen.

Wilhelm Konradi war daher gezwungen, direkt nach seiner Volks- und Berufsschulzeit sich als Knecht und Arbeiter bei verschiedenen Arbeitgebern zu verdingen. 1938 wurde er zum Reichsarbeitsdienst ins Sinntal bei Schlüchern eingezogen, mit Kriegsbeginn diente er bei einem Armee-Pferdelazarett und gelangte 1941 an den Südabschnitt der Ostfront.

Im Range eines Obergefreiten wurde er im März 1944 zu einer Fronteinheit der Heeresgruppe Mitte versetzt und gelangte sofort in schwere Kämpfe im Raum Mogilev. Binnen weniger Tage erhielt er mehrere Auszeichnungen, darunter das Eiserne Kreuz 2. Klasse. Belege dafür, dass die sogenannten Auffrischungskräfte ohne große Akklimatisierung und Frontausbildung direkt ins Feuer geworfen wurden.

Als einer der wenigsten seiner Einheit überlebte er den großen Zusammenbruch des Mittelabschnitts der Ostfront im Frühsommer 1944. Insgesamt hatte das Deutsche Reich binnen weniger Wochen den Verlust von 28 Divisionen – rund 350.000 Mann – hinzunehmen. Mithin, und das ist heute fast vergessen, war das das Doppelte der Verluste von Stalingrad!

Lediglich „Einzelmarschierer“, so die Chronik der Division von Wilhelm Konradi, überlebten und gelangten auf nicht nachvollziehbaren Wegen ins Baltikum, wo sie neu strukturiert und aufgestellt wurden. Doch auch in Lettland standen die Deutschen von Anfang an unter dem übermächtigen Druck der Roten Armee und wurden in ständige Rückzugsgefechte bei immer schlechter werdendem Wetter verwickelt.

Im Raum Wenden, heute Cesis, wurde die Einheit Konradis, das 17. Grenadier-Regiment, an die Gauja, dem längsten Fluss Lettlands, gedrückt. Mit dem Rücken zu dem Fluß, dessen kleine Fähre an dieser Stelle immer nur wenigen Soldaten die Überquerung erlaubte, wurden die Deutschen von überlegenen Russen angegriffen.

Der von Schepp in einem US-amerikanischen Archiv recherchierte mehrseitige deutsche Regimentsbericht zu diesem Tag, dem 25.09.1944, offenbart schreckliche und chaotische Momente. Bei Regen und Kälte, von tagelangen Rückzugskämpfen erschöpft, leisteten die Deutschen verzweifelten Widerstand und schossen einige sowjetische Panzer ab. Doch unter dem Druck der angreifenden Sowjets sprangen viele Deutsche verzweifelt in die kalten Fluten der Gauja, zumal die Fähre von Geschossen getroffen wurde. Menschen und Tiere verschwanden im Fluss, dramatische Szenen spielten sich ab, Panik machte sich breit. Viele Soldaten ertranken, wurden dies- oder jenseits des Ufers der Gauja verwundet oder getötet. Genau in diesem Inferno fand auch Wilhelm Konradi den Tod.

Es verwundert nicht, wenn in dem Brief an die Mutter des Obergefreiten Konradi davon die Rede ist, dass „wegen andauernder Kämpfe seine Leiche nicht geborgen werden konnte“.

Von Brief und Regimentsbericht beeindruckt, machte sich Sven Schepp mit seinem Pkw nach Lettland auf, um sich vor Ort, also an der Fährställe Skundrini, nördlich von Cesis, ein Bild zu machen. Leser seines Buches wird anhand von Fotos und Beschreibungen der Örtlichkeit das Schicksal von Wilhelm Konradi plastisch und greifbarer.

Ist dies auch nur die Spurensuche zur Biografie eines einzelnen Gefallenen, so mag diese doch sinnbildlich für unzählige junge Männer stehen, die noch heute ohne Grab und namenlos in den schier unendlichen Wäldern und Sümpfen, den Landschaften und Städten auf dem Gebiet des ehemaligen östlichen Kriegsschauplatzes ruhen.

Das Beispiel von Wilhelm Konradi mag auch verdeutlichen, wie stark die Verluste des Jahres 1944 waren. Über 300.000 Gefallene und rund 1,1 Millionen Vermisste in einem Jahr übertrafen die Verluste der vorherigen Jahre um ein Vielfaches. Dieses Bild spiegelt sich auch in der Anzahl der Harbacher Kriegsopfer wider, die mit insg. 19 die höchste Anzahl der bisherigen Kriegsjahre einnahm, wider.

Das deutsche Heer war Ende 1944 zusammengebrochen, und doch ging das Sterben weiter.

Für Harbach selbst brachte der Krieg insgesamt 29 Gefallene, die im Dorf geboren waren oder dort eingeheiratet hatten. Weitere 20 Gefallene waren Angehörige von Familien, die als Heimatvertriebene dort später eine neue Heimat fanden. Acht deutsche Soldaten kamen bei Kämpfen und Unglücksfällen in der Gemarkung ums Leben. Zwei gefangene US-Amerikaner wurden im räumlichen Umfeld des Flugplatzes gelyncht, drei ungarische Soldaten fielen in der Endphase des Krieges in der Nähe des Flugplatzes, zwei Zwangsarbeiter kamen ebenfalls auf dem Flugplatz ums Leben. Vier Menschen, darunter drei Kinder, kamen nach dem Krieg beim Hantieren mit Kriegsmunition zu Tode.

Die Statistik besagt, dass von den zwischen 1905 und 1930 in Harbach geborenen Männern 22,5 % durch Kriegshandlungen ums Leben kam.

Doch bei all den Zahlen darf nicht vergessen werden, dass ein jeder Tote eine Mutter, ein jeder einen Vater und ein jeder eine persönliche Biografie, individuelle Träume und Lebenswünsche gehabt hatte. Genau deshalb spürt Schepp in seinem Buch all diesen Einzelschicksalen nach.

Auch mit dem Dritten Dokument, welches in einem Harbacher Nachlass entdeckt wurde, blicken wir nach Osten. Genauer gesagt nach Ostpreußen.

Harbach hatte zu Beginn des Zweiten Weltkrieges 432 Einwohner. In der zweiten Jahreshälfte 1945 und besonders 1946 gelangten 156 Heimatvertriebene aus den deutschen Ostgebieten in das Dorf und mussten aufgenommen werden. Dies ging auch mit einer behördlichen Beschlagnahme von Wohnraum einher, von denen heute noch Schriftstücke zeugen. Das Dorf wurde wie so viele andere Orte der heimischen Gegend von der plötzlichen Belastung sehr in Anspruch genommen, ja fast überrollt. Soziale Konflikte blieben bei dem nun folgenden Assimilationsprozess nicht aus.

Jeder der Heimatvertriebenen hatte seine Biografie. Jeder hatte ein besonderes Schicksal. Eines dieser Schicksale beschreibt der Lebenslauf von Lothar Schwarz, dem Sohn des später in Harbach ansässigen Försters.

Familie Schwarz stammte aus Tilsit in Ostpreußen. Im Winter 1944/45 wurde die Familie unter den damals vorherrschenden katastrophalen Verhältnissen getrennt. Während der Vater als Soldat diente, wurde der damals 11-jährige Lothar von seiner Mutter und seinem Bruder getrennt, die ihrerseits über die Ostsee nach Dänemark gelangten.

„Wir gingen einer sehr schweren Zeit entgegen. Es dauerte nicht lange, da lagen wir unter Beschuß, während dem Feuer bin ich von meinen Eltern abgekommen. Nun irrte ich ein ganzes Jahr in Pommern herum und wußte nicht wo meine Eltern waren.“

Beim Lesen dieser von Lothar Schwarz 1947 verfassten Zeilen seines Lebenslaufes mag einem der Atem stocken. Ein 11-jähriges Kind irrte 1945/46 für den Zeitraum eines Jahres alleine in Pommern herum! Welche Erlebnisse musste das Kind machen, wie konnte es sich versorgen und welche Gefühle musste seine Kinderseele ertragen?

Förster Schwarz verschlug es im Mai 1946 nach Harbach, wo sich die Familie letztlich wieder zusammenfand.

Lothar Schwarz verstarb leider schon vor einigen Jahren. Er konnte nicht mehr befragt werden, so dass seine Erlebnisse für uns verborgen bleiben. Doch ohne das Auffinden des auf Löschpapier geschriebenen Lebenslaufes wäre dieses Detail der Geschichte von Harbach vergessen worden.

Der Assimilationsprozess der Heimatvertriebenen und der ortsansässigen Harbacher sollte allerdings gelingen. Neben der Schaffung von Wohnraum, hier seien insbesondere die innerhalb von fünf Jahren geschaffenen 21 Häuser der Egerländer Straße zu nennen, waren es insbesondere Vereine, die eine wertvolle soziale Arbeit leisteten. Hier brachten sich Alteingesessene und Heimatvertriebene gleichermaßen ein. Letztere setzten zudem Ihr Können und ihren Fleiß ein und gründeten Wirtschaftsbetriebe, die z.T. heute noch eine führende Stellung als Arbeitgeber im Ort einnehmen.

Alle Dokumente sind unscheinbar, sie sind alt und vergilbt. Vielleicht hätten sie noch über Jahre achtlos in einem Stapel Papiere gelegen oder wären bei einem Frühjahrsputz entsorgt worden. Ihnen gemein ist die Verbindung zu einem menschlichen Schicksal, zu einer Biografie sowie zur sozialen Geschichte eines oberhessischen Dorfes.

Im Buch „In fremder Erde ruh’n – Die Harbacher im Zweiten Weltkrieg“ werden viele weitere dieser Schicksale beschrieben und so vor dem Vergessen bewahrt. Mögen sie beispielhaft für die Sozialgeschichte der heimischen Region stehen.